Es ist höchste Zeit, dass ich heute im „Friedensdorf“ bin. Bisher war ich zwar im Netzwerk der „Friedenspost“, in Broc selber war ich aber noch nicht. Erlaubt mir deshalb, einige Daten und Personen in Erinnerung zu rufen, die belegen, dass „Broc“ für mich dennoch nicht zu einer virtuellen Grösse geworden ist.
Vor dreissig Jahren wurde 1983 das Friedensdorf im Flüeli-Ranft gegründet. In diesem Kontext – voll in er damaligen Friedenswelle – haben sich Josef Wirth und ich oft getroffen und öffentlich miteinander engagiert. Ich theoretisch in der Fastenopfer-Kampagne „Frieden wagen“. Josef war hingegen praktisch: er hat das Projekt Friedensdorf realisiert. Meine Vorträge sind längst vergessen. Die Initiative von Josef entwickelt sich immer noch weiter.
Seit dem Umzug nach Broc bin ich aber dennoch mit dem Projekt „Friedensdorf“ auch persönlich verbunden geblieben. Es geschah über die Universität Fribourg, wo Petra Bleisch, Michael Widmer und Bruno Grünenfelder aktiv und mit Bodenhaftung an meinen friedenspädagogischen Vorlesungen und Seminaren teilgenommen haben. Ihr Testfeld war Broc.
Ich bin deshalb heute Nachmittag sehr beeindruckt, dass wir jetzt die Diskussionen mit neuen Akzenten weiterführen können – damals wie heute auch mit Ueli Wildberger vom internationalen Versöhnungsbund MIR, mit Ruedi Tobler und Peter Weishaupt vom Schweizerischen Friedensrat oder mit dem Centre pour l’Action non-Violente. Mit Philippe Jeannerat vom „Centre Martin Luther King“ haben wir an der Synode 1974 der Schweizer Katholiken in Bern äusserst dezidiert – unter dem Obertitel „Schalomarbeit“ – für ein erneuertes Friedens- und Entwicklungsverständnis plädiert und es mehrheitsfähig werden lassen.
Inzwischen ist sehr viel Zeit vergangen. Wir alle haben weiter gearbeitet. Und unsere Haare sind grau geworden. Seither hat sich aber das politische Umfeld europaweit und global radikal verändert. Ihr repräsentiert diese neue Generation von kompetenten Frauen und Männern, die sich den neuen Problemen stellt und neue Lösungsmodelle zur Konflikttransformation entwickelt. Gemeinsam und intergenerationell bleiben wir der Sache treu – nüchtern, mit verfeinerteren Analysewerkzeugen und komplexeren Versöhnungsmethoden, grundsätzlich aber engagiert wie eh und je.
Entsprechend dem Vorschlag des Vorbereitungsteams will ich diese Dynamiken etwas ausführlicher darstellen. Unter dem Obertitel
Friedenspädagogische Schlüsselkompetenzen
werde ich davon drei Fähigkeiten kurz kommentieren:
- Logik der Compassion
- Zivilisierung der Differenz
- Enttäuschungsfestigkeit
Diese Themen versprechen keine neuen friedenpädagogischen Erkenntnisse. Die drei erwähnten Schlüsselkompetenzen bezeichnen ja die Grundrhythmen, wonach ihr immer schon gearbeitet habt – im Schulalltag oder während Weiterbildungskursen und Seminaren. Mit Josef Wirth und den Kolleginnen und Kollegen aus den erwähnten NGOs seid ihr in der „Culture of Peace“ engagiert. Aber die kontextuellen Einfärbungen und die Dringlichkeit haben sich inzwischen modifiziert.
Logik der Compassion
Den ersten Perspektivenwechsel würde ich holzschnittartig folgendermassen umschreiben: Waren wir damals von der hoffnungsstarken Dynamik getragen, solidarisch die Zukunft gestalten zu können, so sind wir von heute pragmatischer geworden. Wir proklamieren weniger die globale Gastfreundschaft, kooperieren aber mit lokalen Akteuren, um auf die menschlichen Grundbedürfnisse – die „Basic Human Needs“ BHN – mit konkrete Massnahmen zu antworten: sauberes Trinkwasser und sanitäre Anlagen, Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Migranten, im fragilen Süden Schutz vor Epidemien, Arbeit an der Klima-Gerechtigkeit, menschenwürdige Arbeits- und Lohnbedingungen beim Rohstoff-Abbau, Schutz vor Menschenhandel. Solche und ähnliche unerfüllte Grundbedürfnisse sind aber – und manche unter Euch wissen es aus Erfahrung! – international und transkulturell ebenso viele Bedrohungen.
Der Soziologe Ulrich Beck subsumiert die erwähnten Kontexte unter den Stichworten der „Risikogesellschaft“ und der „Globalisierung“. Und er diagnostiziert den „kosmopolitischen Mehrwert“ als Reaktion auf diese ausbeuterischen Situationen. Er spricht dabei von der „Logik der Compassion“, die sich in drei Schritten entwickelt:
- Information: Durch die Massenmedien wissen wir um die politisch-wirtschaftliche Komplexität der erwähnten globalen Notsituationen. Und bei dieser kosmopolitischen Wahrnehmung der Risiken und des strukturellem Elends wächst das Bewusstsein, dass keine Nation sie allein lösen kann.
- Betroffen-Sein: Solche Nachrichten lösen grenzüberschreitend den Willen zum Helfen aus. Und das Bewusstsein wächst, dass zum gemeinsamen Überleben globale Netzwerke notwendig sind. Diese Hilfsbereitschaft ist nicht mehr eine Entscheidung von friedensbewegten Menschen oder eine Antwort auf religiöse Appelle, sondern wird zu einer kosmopolitische Norm.
- Raum globaler Verantwortung: Die „fernen Anderen“ werden dadurch zu unseren Nachbarn. Gastfreundschaft – oder „Gastfeindschaft“ – wird zum politischen Lösungsmodell. Die „Inklusion des Anderen“ ist international durch die „Responsibility to Protect“ (R2P: Schutzverantwortung) institutionell garantiert. Was wäre aber friedenspädagogisch und friedenspolitisch zu tun, damit dieser UNO-Standard nicht weitgehend – wie 1994 im Genozid von Ruanda oder seit 2012 in Syrien – versagt?
Zivilisierung der Differenz
Im „Plan d’Etudes Romand“ und im „Lehrplan 21“ sollen die „Capacités transversales“ und die „transversalen Kompetenzen“ in der multikulturellen Schule bzw. Gesellschaft dazu beitragen, Toleranz und „Démocratie active“ zu fördern und den Lebensstil in der „Global Citizenship“ einzuüben. Aber es ist erfahrungsgemäss für uns alle nicht leicht, eine solche Grammatik und ihre neuen Zielwerte zu erlernen. Stichworte wie Verhandlungskompetenz, kollektive Zivilität, Kompromissfähigkeit, laterales Denken oder Entfeindungsliebe und grenzüberschreitende Identifizierung bezeichnen nämlich ebenso viele Orte von grossherziger Ermutigung, aber auch von unerträglicher Desillusion.
Ganz zu schweigen von den Risiken, die von Pädagoginnen und Pädagogen eingegangen werden, wann immer sie eine solche erneuerte Grammatik vermitteln wollen. Ein solcher Umbau ist zwar in der Schweiz oder in Westeuropa nicht so dramatisch, ja tödlich, wie es für die Schülerin Malala Yousafzai und ihren Vater als Lehrer war, als die Taliban genau vor einem Jahr im Swat-Tal zwischen Afghanistan und Pakistan die islamistische Macht an sich gerissen haben. Aber auch in unserer unmittelbaren Umgebung illustriert das unter Lehrern und Katechetinnen immer mehr verbreitete Phänomen von Burnout, wie herausfordernd ein solcher Kulturwandel ist.
Ich kann dazu kein Heilmittel angeben. Ich bemerke aber, wie sich die pädagogischen Schwerpunkte verlagern. So stehen im Ausbildungsplan nicht mehr ausschliesslich das inhaltliche „Was“ und das das methodische „Wie“ im Zentrum, sondern mehr und mehr das „Wer“ der Persönlichkeit des Lehrers oder des Mediators. So verhandeln wir im Team für „Culture and Religion in Mediation“ am Zentrum für Sicherheitsstudien der ETH intensiv darüber, wie flexibel, belastungsfähig, vertrauenswürdig, entspannt, humorvoll und kreativ das Profil ihrer Experten sein sollte. Die Politologen, Wirtschaftler und Diplomaten diskutieren dann über Spiritualität.
Enttäuschungsfestigkeit
Die Fragen sind dann nicht mehr ausschliesslich jene der technischen Kompetenz, sondern auch die Themen nach der Standfestigkeit, um mit Enttäuschungen und öffentlichem Druck umgehen zu können: Übergangen zu werden, weil wir „anders“ und „fremd“ sind? Von den Vertretern der harten politischen Realität als „Gutmensch“ belächelt zu werden? Ohnmächtig von den Sachzwängen und der Staatsraison überrollt zu werden? Als „Muslime“ oder „Roma“ gemieden zu werden? Wie in der Friedensarbeit jene emotionale und argumentative Kompetenz erreichen, um die persönliche Sicherheit zu bewahren, auch wenn ich mich ausserhalb des bestehenden Systems bewege?
Der Mahatma Gandhi hat die Satyagrahi-Mitkämpfer vor dem gefährlichen Salzmarsch 1939 im Ashram Phoenix durch Fasten, spirituelle Lektüre und Meditation auf die öffentliche Konfrontation vorbereitet. Martin Luther King hat die TeinehmerInnen an den Protestmärsche 1962-1963 in Ausbildungs-Häusern auf die Praxis des öffentlichen Ungehorsams vorbereitet und ihre Belastungsfähigkeit und Selbstkontrolle in Stress-Situationen getestet. Klar: Gandhi und Martin Luther King haben sich für den politisch Wandel in den Kontexten von Kolonisation und weissem Rassismus engagiert. Wie heute solche Prozesse des gesellschaftlichen Wandels verinnerlichen und durchsetzen?
Und im Schulalltag von heute? Ich habe keine Lösung anzubieten. Vielleicht, dass „Arigatou“, das japanische Ethik-Trainingsmodell für Kinder, international erprobte Anregungen für interkulturelle und interreligiöse Veränderungen vermitteln könnte? Aber der garstige Graben zwischen der Kleingruppe im Schulzimmer und der öffentlichen Konfrontation bleibt bestehen. Die zwischenpersönlichen Konflikte können durch Mediations-Verfahren aufgehoben werden. Was geschieht aber auf der Ebene von struktureller Gewalt, von sozialem Misstrauen und religiösem Hass? In der Schweiz ebenso sehr wie in Afghanistan oder Nigeria!
Eine ernüchternde Zwischenbilanz
Somit bleibt es auch in meinem heutigen Rechenschaftsbericht bei Euch im Friedensdorf Broc erneut bei einer Auslegeordnung. Viel nüchterner zwar als während der Fastopfer-Kampagne „Mobilmachung für den Frieden“ vor dreissig Jahren. Etwas pragmatischer auch als in den damaligen friedenspädagogischen Entwürfen. Im Vertrauen auch auf die Kompetenzen der Generation, die Ihr heute an dieser friedenspädagogischen Tagung repräsentiert.
Meinerseits versuche auch ich weiterhin den friedenspädagogischen Spagat zwischen einerseits dem CARIM-Projekt an der ETH Zürich um „Culture and Religion in Mediation“ und andererseits meiner Begleitung als „Grand-parent faisant fonction“ des 11-jährigen Ruben und der 9-jährigen Isabelle, deren mexikanischer Vater vor fünf Jahren an Krebs weggestorben ist. Es ist mir noch nicht gelungen, den beiden Kindern auch nur eine Spur von den drei friedenspädagogischen Schlüsselkompetenzen zu vermitteln, die ich Euch vorgestellt habe. Die Computer-Spielkonsole der „Skylander“ mit ihren Tötungsfeldern oder die „Minekraft“-Strategien sind faszinierender als meine Worte über Empathie und Compassion. Auch im Zürcher ETH-Expertenteam für Mediation haben wir noch wenig Gedanken darüber gemacht, wie wir die friedenspädagogischen Schlüsselkompetenzen der Empathie-Logik, der Zivilisierung von Differenzen und des enttäuschungsfesten Umgangs mit Ohnmacht aneignen, verinnerlichen, operationalisieren und veröffentlichen können.
Umso mehr danke ich Rahel und Barbara herzlich dafür, mich heute zu diesem Rechenschaftsbericht ins Friedensdorf nach Broc eingeladen zu haben.
Bibliographie
Arigatou (Fondation), Apprendre à vivre ensemble. Un programme interculturel et interreligieux pour l’enseignement de l’éthique, Genève 2008, 234 pp. (= 1, Rue de Varembé, 1202 Genève).
Beck Ulrich, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt am Main 2007.
Bleisch Petra, Andrea Rota (Hg.), Frieden als Beruf – Beiträge aus der Religions- und Friedensforschung. Festschrift für Richard Friedli zu seinem 75. Geburtstag (Culturel 3), Zürich 2012.
Friedli Richard, Frieden wagen. Ein Beitrag der Religionen zur Gewaltanalyse und zur Friedensarbeit, Freiburg/Schweiz 1981 (35-41: Leitkategorien der Friedenspädagogik).
Grasse Renate, Bettina Gruber, Günther Gugel (Hg.), Friedenspädagogik. Grundlagen, Praxisansätze, Perspektiven, Rowohlt Taschenbuch, 2009.
Guillebaud Jean-Claude, Le commencement d’un monde. Vers une modernité Métisse, Paris 2008.
Krüger Oliver, Die mediale Religion. Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung, Bielefeld, 373-444 (Internet).
Malala Yousefzai, Moi, Malala. Je lutte pour l’éducation et je résiste aux talibans, Paris 2013.
Wintersteiner Werner and Victorija Ratkovic (Eds.), Culture of Peace. A Concept and A Campaign Revisited (Yearbook Peace Culture 2010), Klagenfurt 2010.
Richard Friedli, 27. Oktober 2013